Category: Keine Erotik Geschichten

Wege und Kreuze

by Andy43©

(In Erinnerung an einen Freund meiner Jugendzeit)

*

Der Weg zu meiner Mutter, einem Weg, der Jahre später auch zum Weg zu meinem Vater wurde, führte mich immer an dir vorbei, ließ mich dein emailliertes, jugendliches Konterfei auf weißem Grund betrachten, welches auf schwarzem Granit klebend, neben deinem Geburts- und Todestag angebracht war.

Ich war lange nicht mehr hier. Nicht, weil mit der Zeit jegliche Erinnerung verblasst. Es war die Entfernung zwischen Heimat und Fremde.

Es war vergebens. Ich suchte und erschrak, da ich feststellte, es war nicht mehr da, wie all die anderen, die sich mit der Zeit zu dir gesellten. Fünfundzwanzig Jahre diente es dir als letzte Ruhestätte, danach wurde es unweigerlich eingeebnet, nicht jedoch die Erinnerung an dich.

Fünfundzwanzig Jahre. Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Nichts blieb an dieser Stelle, außer einem weiten Feld mit frisch gemähtem Gras, welches auf die nächsten Narben wartet, aus aufgeworfenen Hügeln, bekränzt mit letzten Grüßen.

Dich gekannt zu haben, erfüllt mich mit Freude, trotz der schmerzlichen Einsicht, dass nichts mehr an diesem Ort an dich erinnert, niemand bei dir stehen bleiben wird, um darüber nachzusinnen, was du ihnen bedeutetest; selbst fremde Besucher werden nicht mehr bestürzt innehalten, sobald sie sehen, dass es dich im Alter von achtzehn Jahren erwischt hatte.

Dein Todestag, der mich zutiefst erschütterte, jenes unvergessene Telefonat mit meinem Vater, der mich darüber in Kenntnis setzte, bedeutete das Ende deines heranwachsenden Lebens und der Beginn meiner Erinnerungen an eine gemeinsam verbrachte, unbeschwerte Jugendzeit. Es blieb nichts mehr abzuwarten, was dich an betraf.

Was mir bleibt sind kurze Szenen, Stummfilme, die ich mit deiner Stimme, deinem schalkhaften Lachen zu untermalen suche, um mich einer Realität zu erinnern, die mit zunehmender, zeitlicher Distanz zu einer Fiktion geworden ist; je mehr Zeit verging, desto ungläubiger schaute ich auf diese Tatsache, und das Fehlen eines Ortes der Erinnerung, macht es nunmehr endgültig. Es ist nicht allein die fiktive Begegnung mit dir. Es sind die Gespräche mit deinen Eltern, deiner jüngeren Schwester, die in ihrer zaghaften Art ganz anders ist, als du es warst. Gespräche, die ich führte, wenn ich ihnen zufällig hier begegnete; und auch diese Begegnungen liegen Jahre zurück. Gespräche, die vom Unfassbaren handelten, das zu unser aller Leben gehört, und manchmal ein junges Leben erfassen konnte, zu Recht oder zu Unrecht.

Es bleibt jedoch ein weiterer Ort. Deutlich erkennbar an einer großen, verwachsenen Narbe. Er steht noch, jener letzte Baum in der Allee, an dem dein Leben zerschellte, zu schnell, zu abrupt. Das war und ist das Schockierende an deinem Schicksal, und doch wunderte es mich nicht. Ich kannte dich allzu gut, deine ausgelassene Neugierde. Kannte deine überschwängliche Lebensfreude, die sich mutig und unerfahren auf das vermeintlich Machbare stürzte, bis sie dich zu Fall brachte, als du ihre Grenze überschrittest, die Grenze deiner jugendlichen Fähigkeiten, die jeder Erfahrung, jeder Ermahnung trotzte. Wir haben es befürchtet und dennoch nicht für möglich gehalten.

Es ist seltsam. Während ich meinen Blick über den frisch gemähten Rasen schweifen lasse, erinnere ich mich an jene, die mir im Leben begegneten. Menschen, mit denen ich aufwuchs, meine Kindergartenzeit verbrachte, später mit ihnen zur Schule ging; deren weiteren Lebensverlauf ich gut kannte, sah, wie sie sich entwickelten, welche Berufe sie wählten, wen sie heirateten, was für ein Leben sie sich aufzubauen gedachten und zu früh starben. All jene, mit denen ich einen Teil meiner Lebenszeit verbracht hatte. Freunde und gute Bekannte, die nicht mehr leben, und manche von ihnen seit Jahrzehnten nicht mehr. Erschüttert bin ich, bedenke ich, wie viele es bis heute sind.

Jeder von ihnen lebte sein eigenes Leben und starb seinen eigenen Tod.

Einige lebten mit einer unwägbaren Hoffnung und starben früh an Krankheit. Andere sahen sich hoffnungslos und nahmen sich das Leben. Drogen und Alkohol zerrten manche aus dem Leben. Sie alle hinterließen nicht allein Frau und Kinder. Sie hinterließen Erinnerungen und viele Fragen. Was denn ein geglücktes Leben ausmacht, welche Chancen man nicht verpassen sollte, ob es ein gerechtes Leben gibt und, wenn es so ist, es einen gerechten Tod gäbe. Hat ein kurzes Leben einen Sinn, wenn ja, für wen? Bedeutet ein Suizid eine Schuldzuweisung? Wenn ja, auf wen trifft diese zu?

Ich erinnere mich an Dirk, der in der Schule nicht allein mit seinem Gerede einen auf dicke Hose machte, mit dem ich mich oft raufte, der sich viele Jahre später das Leben nahm, eine verzweifelte Frau, zwei kleine Kinder, ein großes Haus und jede Menge Schulden hinterließ.

Jörg, der mit einer Gaumenspalte geboren wurde und seit der Kindergartenzeit unter gehässigen Äußerungen litt; und nach einigen Operationen und Zahnkorrekturen, die ihn zu einem durchaus ansehnlichen, jungen Mann werden ließen, den eine Frau nicht verschmähen sollte, mit der er später zwei Kinder hatte, starb an seinem unkontrollierbaren Alkoholismus, der wohl Ausdruck einer übermäßigen Unsicherheit war und an seinem letzten Tag, wie ich hörte, durch den Konsum von vier Flaschen Schnaps.

Julia, dieses bildhübsche Mädchen, die mit einem guten Bekannten zusammen war, der ohnmächtig wie wir alle, ihrem körperlichen Verfall zusehen musste, daran verzweifelte, wie sie jeden guten Rat in den Wind schlug, professionelle Hilfe ablehnte; er, so nahe er ihr auch war, es nicht verhindern konnte, sich den letzten Schuss zu setzen, sie so elendig vorzufinden, dieses einst so wunderschöne, liebenswerte, lebensfrohe, labile Mädchen, in sich zusammengesunken, zu Hause auf ihrem Sofa.

Dieser Ort mit seinem gepflegten Rasen, welcher Vergangenheit einebnet, lässt mich an Martina denken, der ich es verdanke, schon sehr früh erfahren zu haben, worin die körperlichen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Natura bestehen. Ich sehe mich noch mit ihr im stickig heißen Zelt während der Sommerferien, beginne zu fühlen, wie nervös ich wurde in Erwartung, sie nackt zu sehen. Martina, jenes süße Mädchen aus der Nachbarschaft, für die ich erste, zarte Gefühle entwickelte. Gefühle, die ich mich bis dahin nicht traute zu zeigen; Martina mir zu verstehen gab, dass sie mich ebenfalls mochte, mir aufzeigte, wohin die aufregende Reise mit uns gehen sollte. Für Martina und mich endete jene Reise wenige Monate später durch ihren Autounfall, bei dem auch ihre Eltern starben, kurz vor Martinas fünfzehnten Geburtstag. Ihr Geschenk habe ich heute noch. Ich weiß nicht warum. Es ist unendlich lange her und es ist mir bewusst: Es war keine wirkliche Liebe, kein weitreichendes, tragendes Gefühl darin, das uns bis heute hätte verbinden können. Es berührt mich immer noch, ihr Schicksal, das nicht meines ist, wie auch das Los der anderen. Manchmal trifft man im Leben selbst die Wahl, wie es enden soll, doch oft trifft das Leben unverhofft diese endgültige Entscheidung, was man gemeinhin Schicksal nennt. Mich damit abzufinden fällt mir schwer.

Es ist nicht Melancholie nach der ich suche, von der ich mich freiwillig befallen lasse. Die nüchterne, unverklärte Betrachtung jener Ereignisse, die lange zurückliegen, ist es, die mich erkennen lässt, wie viel doch von Menschen bleibt, die mehr oder weniger mein Leben geprägt, es begleitet und beeinflusst haben. Diese Einsicht gewinne ich nicht erst, sobald ich am Ende meines Weges am Grab meiner Eltern stehe.

Viel weitreichender ist für mich die Erkenntnis, was diejenigen Menschen mir bedeuten, die ich noch um mich habe und nicht zuletzt die Einsicht, wie wichtig ich selbst für manche von ihnen bin; was ich ihnen und ihrem Leben bedeute.

Die Erinnerung an Menschen, denen ich nichts mehr sein kann, verweist mich an jene, die leben, denen ich all meine Aufmerksamkeit schulde. Das ist die einzige Schuld, denke ich, die es zu tilgen gilt, sofern man von Schuld sprechen will.

Mein Blick fällt auf meine Autoschlüssel, die ich in der Hand halte. Ich werde zu ihr fahren, zurück auf dem Weg, der mich zu dir geführt hat, alter Freund, die Allee entlang, die mich deiner erinnern ließ. Ich fühle deinen freundschaftlichen Schlag auf meiner Schulter und glaube, ein schalkhaftes Lachen zu hören, das deinen frühen Tod zu spotten scheint, und du mir klar machen willst, worin der tiefere Sinn deines Schicksales für mich liegen mag.

Ich stehe vor dem brachen Feld, begreife, was geschehen ist und beschließe zurückzufahren, sie in den Arm zu nehmen, ihr zu sagen, wie wichtig sie für mein Leben ist, wie glücklich sie mich macht, wie sehr ich sie liebe und was ihre Liebe mir bedeutet. Solange mir noch Zeit dafür bleibt.

Written by: Andy43

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