Category: Keine Erotik Geschichten

Ecce Homo

by Andy43©

© 2012 by Andy43

Leise Schritte. Der östliche Chor füllt sich allmählich. Der Weihrauch der vergangenen Nacht hängt noch neblig in der Luft. Das Knarren des alten Gestühls intoniert ein kaltes Gefühl und wirft sich im Echo der Jahrhunderte von den getünchten Wänden der Apsis hinein ins halbdunkle Mittelschiff. Dort vereinzelte Gestalten in den Bänken, die mit uns platz genommen haben. Diffus im fahlen Licht der Kerzen sitzend, nicht weniger mit Hoffnung gesegnet als wir, dennoch dort unten, gebührend entfernt, wo ich einst saß.

Es ist unser drittes Jahr. Noch braucht die Sonne eine Weile bis sie aufgeht; dem Glas der gothischen Fenster allerlei Farben entlockt und die blässlich müden, entrückten Gesichter erleuchtet; sie ins Leben zurück holt, sie erweckt, wie mich. Am Ende dieser halben Stunde wird es sich zeigen, jenes Licht der Erkenntnis mich anrühren, während wir den Chorraum verlassen. Endgültig.

Es ist kühl. Ich ziehe mir die Kapuze über. Verkrieche mich hinein in den straffen Leinen, lehne mich stehend zurück, mache es mir bequem auf der schmalen Sitzhilfe, stimme mich ein auf den Tag so gut es geht und warte auf das Klopfzeichen.

Sie sitzt mir direkt gegenüber. Eine Silhouette unter Silhouetten. Wie immer kontemplativ an ihrem Platz. Eine Magd des Herrn. Ich lächle in mich hinein. Der Habit macht uns alle gleich. Nivelliert uns auf ein Gelübde, auf ein freiwilliges Versprechen der Endgültigkeit, um das ein jeder kämpfen muss, jeden Tag. Jeder Tag ist gleich und dennoch anders. Ich kämpfe mit mir und ich weiß, sie muss es auch. Freiwillig.

Ein dumpfes Klopfen lässt mich aufhorchen, aufrichten und verneigen. Der Ritus ist geübt, über die Jahrhunderte erprobt; formalisierte Tradition. Jener alltägliche Rahmen ein Gehstock, ein sicherer Halt für Fallstricke, die die Einsamkeit im kommunitären Alleinsein bereit hält.

'Dómine, lábia mea apéries.'

'Et os meum annuntiábit laudem tuam.'

Wir rezitieren abwechselnd im Chor.

Magdalena ist eine wunderbare Frau. Ihr Taufname sei Melanie, verriet sie mir in einem Zwiegespräch bei einem Kaffee im Refektorium während der Recreation; der täglich freien Stunde am Nachmittag.

Ich mag Magdalena mehr als ich will. Tatsächlich könnte ich fallen; meine Gefühle über einen Strick stolpern, der nicht nur meinen Habit schnürt, so verbunden mit ihr; nicht allein in jenen Momenten, wenn ich sie betrachte.

Ich befürchte, sie kann es nachfühlen, abgeklärt wie sie ist. Ich frage mich, wann man sich endgültig entschieden hat. Was gilt am Ende? Am Ende meines Studiums, wenn ich mich für immer festlege?

Mich für eine Aufgabe entscheide in Absprache mit dem Orden? Demut erwirkt die Kraft, sich über sich selbst hinwegsetzen zu können, ohne sich zu verleugnen. Gehorsam zu üben, seiner eigenen Entscheidung gegenüber und standhaft zu sein, mit Blick auf die Bedürfnisse jener, die zu Opfern gemacht wurden.

Weitere Studien in Rom, Oxford? Promotion? Das würde mir gefallen. Die Welt steht mir offen, dank des weltgewandten Ordens. Oder doch nach Bolivien gehen, an die Basis? Der Armut, dem Unrecht den Kampf anzusagen; jenen Regimen, den globalen Ausbeutern; mich politisch engagieren? Ihnen das Wort entgegen zu setzten. Das würde ich meiner Demut ebenso abverlangen wollen. Bei aller Konsequenz.

Ich bin ein Revoluzzer, nicht nur in Gedanken. Heuchle nie, sage es klar und deutlich; leg die Finger in seine Wunden.

Wenn ich rede, geht ein unruhiges Knarren durch die alten Bänke. Man kennt mich. Es soll bewegen. Sobald ich mich wieder zum Chorgestühl umwende, um meinen Platz einzunehmen, schaue ich in junge, schmunzelnde und in manch alte, romtreue, eher verzweifelt wirkende Gesichter. Noch teste ich mich. Ich fühle mich auf dem richtigen Weg und frage mich, ob sie mich dennoch bei sich aufnehmen werden. Ich will polarisieren. Wie er; in aller Demut.

Mein erster, verstohlener Blick fällt auf Magdalena. Ich will erkennen, was sie denkt, obwohl sie es mir später sagt, bei einem Kaffee im Refektorium, oder auf gelegentlichen Spaziergängen in den umliegenden Wäldern, Sonntagnachmittags, wenn wir uns zeit füreinander nehmen können. Sie weiß, was ich will, was ich denke, sage es ihr klar; nicht, was ich fühle.

Magdalena hat sich entschlossen. Sie wird hier bleiben. Ich werde ihr schreiben. Ganz sicher. So sicher, wie das 'Amen in der Kirche'. Jeden Tag. Kann kommen, was da will.

Melanie inspiriert. Sie hat Esprit, ist intelligent und hübsch dazu. Glücklich sei sie mit ihrer Aufgabe in Küche und Verwaltung. Sie wählte und entschied sich gegen ein Studium. Für mich ein Verlust. Ich respektiere es. Sie kam für einen Augenblick ins Grübeln, als ich sie darauf ansprach. Sie lächelte mich an. Der Zweifel gehöre zur Berufung, meinte sie, nach ende unserer Stunde. Ich verstand und nickte; dachte noch lange darüber nach und konnte nicht einschlafen. Der Zweifel gebiert den Glauben - an was auch immer, und die Freiheit fordert zu Entscheidungen heraus -- was auch immer wir für wahr erachten.

Was müssen wir glauben; was können wir wissen?

Ihre Begabung liege im direkten Umgang mit Menschen. Kinder möge sie besonders. Ihre staunenden Blicke während der Führung über das Gelände, durch die alten Gemäuer, in denen die Moderne schon lange angekommen sei, wie sie immer beteuert; im Zeitalter der Globalisierung, geistig und materiell vernetzt, binäre Bibliotheken, Bildschirme zwischen uralten Folianten. Auf der Höhe der Zeit. Die Tradition habe sich der Gegenwart zu stellen, sich ihr zu erweisen. Wie der Habit nicht das Wesen des Menschen verhüllt, um es seiner Bestimmung zu entziehen, nämlich, frei zu sein, erklärte sie einmal einer Gruppe Abiturienten. Wie recht sie hat. 'Gesetze sind für den Menschen da, nicht der Mensch für die Gesetzte.'

In der Tat, Melanie versteht es zu begeistern, zu entrücken, aufzuklären über das, was es in der Welt zu verändern gilt.

Manchmal begegne ich ihr im Tross der Schüler. Schaue vom Bildschirm auf, wenn sich die Tür leise öffnet, sie lächelnd in den Saal der Bibliothek schaut, alle zur Stille ermahnt und beobachte sie beim Vorzeigen der alten Bücher. Ich lache leise vergnügt, wenn ich sie sagen höre, es gäbe neben Computerspielen und Playstation auch lesenswerte Bücher, wie jene von Karl May oder Oliver Twist von Charles Dickens und sie dabei auf die vollständigen Sammlungen der Erstausgaben unzähliger Autoren verweist, die in den haushohen Schränken und Wandregalen auf einen neugierigen Leser warten. Magdalena genießt den Anblick verwunderter Kinderaugen, die über tausende Buchrücken wandern, in denen ein Geist gebunden sei, der entfessele, wie sie immer betont.

Melanie wäre eine ideale Mutter, mehr, als es Magdalena je sein könnte, denke ich manchmal. Die Kinder mögen sie, verlieren ihre Scheu, sind schnell vertraut mit ihr, schauen sie neugierig an, sind eingenommen von ihrem natürlichen Charme, ihrer tiefsinnigen Worte. Wie ich.

Ich rezitiere Verse wie automatisch, während ich kurz zu ihr hinüber schaue, zum westlichen Chorgestühl, unter dem Rand der schwarzen Kapuze vorbei, die tief in meiner Stirn hängt und warte auf die ersten, milden Strahlen der aufgehenden Sonne in ihrem Gesicht; erhoffe mir einen seligen Blick, wie eine Antwort, die mich endlich erlösen möge.

Mit einer Frau wieder zusammen zu sein, kann ich mir durchaus vorstellen. Mit einer Frau wie Melanie. Anbeten oder anhimmeln, kommt es mir plötzlich in den Sinn. Ich schmunzele dabei in mich hinein. 'Wer es fassen kann, der fasse es.' Beides ist möglich, stelle ich mir zur Disposition. Du hast dich zu entscheiden.

Anbeten und anhimmeln, wäre die Alternative, konstatiere ich und lege mir ein neues Thema für die nächste Ansprache zurecht.

Ein lutherischer Gedanke lache ich konspirativ in mich hinein. Schmunzelnde Gesichter bei den jüngeren Mitbrüdern, meinen Kommilitonen und entrüstetes Stirnfalten bei den Alten, jenen reaktionären Konservativen, welche es mit den Jahren verstanden haben, ihre Zweifel der Tradition unterzuordnen, die entfesselnde Aufbruchstimmung des letzten Konzils zu untergraben, ihr den Elan zu nehmen, wären mir sicher.

Melanie wird mich verstehen, dabei nicht unkritisch sein. Ich könnte mit einer Frau wie Melanie zusammen sein. Sie wird mir fehlen.

Ich erwische mich bei dem Gedanken, dass es nicht nur die mentale, geistige Nähe ist, die ich vermissen werde. In Erinnerung an meine damalige Beziehung, versuche ich mir zu untersagen, ihre Gesichter auszutauschen; wieder warme Zärtlichkeiten, jene verwunschene, körperliche Nähe zuzulassen; Sehnsüchte, die mich heimsuchen in ruhelosen Nächten; Wachträume, die mich zu früher Stunde übermüdet in den Chor treten lassen, in die Stille verhallter Lobgesänge; hinein in erkalteten Weihrauch, der nun als sehnsuchtsvoller Hauch über dem Chorgestühl aufsteigt und mehr offenbaren soll, als es ein fiebriges Gefühl in unruhigen, irdischen Nächten zu vermitteln vermag.

Manchmal lade ich sie zu einem Spaziergang ein. An einen Ort, wo man uns nicht kennt. Wir fahren in die nächst größere Stadt. In zivil. Melanie benimmt sich arglos, was ihre Attraktivität angeht. Alles andere, als es in meinen Träumen der Fall ist.

Sie weiß davon nichts. Es ist befreiend. Für mich. Zweifelsfrei. Ich erschrecke nicht davor. Alte, nachgefühlte Bilder sind lediglich Möglichkeiten. Bekannte, gangbare Alternativen.

Aufbruchstimmung erfüllt mich, während wir ein Eis essend flanieren. Konziliante Erinnerungen sind es. Es ist das Wesen von Melanie, welches meiner Fantasie, meinen Wünschen ein greifbares Gesicht gibt. Für mich wäre sie perfekt; in einem anderen Leben.

Es ist mehr als Sehnsucht nach körperlicher Liebe. Aber es wäre sicher die Krönung eines wahrhaftigen Gefühles, das sich immer wieder einer vernünftigen Ermahnung an ein ehernes Gelübde, einer demütigen Entsagung entziehen will. Es geht um Enthaltsamkeit, die einen Zweck erfüllt. Es geht mir um jene Menschen, die einen Wortführer brauchen, jemanden, der ganz und gar für sie da ist, ihrer Ohnmacht eine nicht erpressbare, unbestechliche Stimme verleiht, bis hin zum bitteren Ende, wenn es sein muss. Das will ich mir zumuten. Mir.

Wäre es ein Verrat an jenen Ohnmächtigen?

Es gibt nichts schlimmeres, als seine Überzeugungen zu verraten. Wer sollte einem solchen Menschen vertrauen schenken wollen.

Seine eigenen, tiefen Gefühle zu denunzieren, ist ebenfalls Verrat, konstatiere ich zwischen einem Vers.

Ich spüre, wie dieser Konflikt in mir nagt, und mir sind die Gefahren bewusst, die eine falsche Entscheidung mit sich bringen kann. Die Flucht in Alkoholismus, den seelischen Absturz in tiefe Depressionen oder verzweifelter Untätigkeit unter der Knute eines falsch verstandenen Dogmatismus. Zu wissen, das man es einst anders wollte und es gekonnt hätte.

All das sehe ich bisweilen unter den Kapuzen um mich herum. Nicht nur hier. Und ich sehe mich der gleichen Gefahr ausgesetzt.

Selbstaufgabe ist keine Demut. Es ist in Wahrheit Überheblichkeit. Falsch verstandene Opferbereitschaft. Wir dagegen haben aufzustehen, um zu leben. Wie ein Lazarus.

Dieser aufrührerische Nazarener will keine willfährige, genügsame Opfer, die sich in sich selbst verkriechen; er sucht überzeugte Mittäter. Ein Gedanke, den ich verwenden, offen aussprechen werde, sinniere ich. Sie werden innerlich fluchen. Ich weiß, sie waren wie ich und sie wissen es.

Magdalena weckt Gefühle in mir, die berechtigte Zweifel in mir auslösen. Ich wünsche mir, sie wüsste es. Vielleicht ahnt sie, dass sie in Wahrheit jene Melanie für mich ist, sobald sich unsere Blicke treffen. Ich werde nicht mit ihr darüber sprechen können. Es nicht dürfen. Ihretwillen. Mein Konflikt, ist nicht ihr Konflikt. Wenn doch? Ich weiß es nicht, darf es nicht wissen. Fürchte mich davor, zu wissen, woran meine Magdalena scheitern könnte.

Sie hat sich entschieden. Ich stehe auf der anderen Seite, noch immer müde nach einer schlaflosen Nacht in Gedanken an sie, verneige mich ehrfurchtsvoll vor dem Altar der Entscheidung, reihe mich ein in die Prozession der Zweifelnden und verlasse mit ihnen das Chorgestühl Richtung Kreuzgang.

Mich beschleicht das irdische Gefühl, beides verwirklichen zu dürfen. Ich werde nicht heucheln, werde mich erklären, mich offenbaren. Ihr meine Ängste und Hoffnungen aufzeigen. Sie wird verstehen. Darin sind wir uns nahe. Es geht ihr wie mir. Ich weiß es, und insgeheim ist es meine Hoffnung. Nichts ist endgültig. Wir müssen uns entscheiden, uns aufraffen. Jeden Tag erneut, zu jeder Stunde; jeder für sich und für den anderen.

Written by: Andy43

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