Category: Humor & Satire Geschichten

Schlimm's Maerchen: Rapunzel Gens

by lanadelrye©

O je, Rapunzel. Das ist ja geradezu der Prototyp eines Märchens, in das man ohne Anstrengung erotische Handlungen hinein lesen kann. Eine naive, junge Frau, seit ihrem zwölften Lebensjahr weltabgeschieden in einem Turm gefangen, wird von einem abenteuerlustigen Mann aufgesucht, während ihre Kerkerwärterin abwesend ist. Dieses Setting ist ja geradezu plump. Würde ein Lit-Autor seine eigene Geschichte auf diese Weise beginnen lassen, dürfte man ihm guten Gewissens Einfallslosigkeit vorwerfen.

Doch stellt euch mein Grinsen vor, als ich mich von den kindgerechten und massentauglichen Bilderbuch-, Disney- und DEFA-Interpretationen Rapunzels löste und mir den Originaltext vornahm. Da steht: Rapunzel will den Königssohn „zum Mann nehmen", weil „er jung und schön war". Es geht offensichtlich nur ums Körperliche, kein Wort zu den hoch gerühmten inneren Werten oder dem züchtigen Zögern einer ehrbaren Jungfrau.

Und was heißt „zum Mann nehmen"? Nein, es wird im Märchen nicht geheiratet, sondern „sie verabredeten, dass er alle Abend zu ihr kommen sollte." Hey, was ist denn das für eine Moral? Und so etwas Ungehöriges übernahmen die Brüder Grimm 1812 in ihre Kinder- und Hausmärchen? Jede Gouvernante und Anstandsdame müsste da doch sofort uneingeschränkt auf der Seite der Zauberin stehen, die offensichtlich verhindern will, dass Rapunzel Männerbesuch empfängt.

Zwar wird nicht beschrieben, was Rapunzel und ihr Prinz des Nachts in dem einsamen Turmzimmer taten, doch es war definitiv mehr, als Händchen halten und sich tief in die Augen schauen. Nach ihrer Verbannung nämlich finden sie sich in der Wüstenei wieder „mit den Zwillingen, die sie geboren hatte". Ja, wie kommt das Mädel denn bloß zu eigenen Kindern? Auf Wikipedia fand ich sogar eine Anmerkung, dass in einer der Quellen der Brüder Grimm die Titelfigur die verbotenen Besuche nicht durch eine ungeschickte Bemerkung gegenüber der Zauberin verrät, sondern durch ihren von der Schwangerschaft anschwellenden Bauch. Diese Wendung wurde für die Märchensammlung deutlich entschärft.

Was macht man nun als Autor, der eine erotische Parodie schreiben möchte, aus einer solchen Vorlage? Im Grunde haben die Brüder Grimm den Rahmen schon abgesteckt. Und doch würde zwischen die wenigen Worte zwischen der Verabredung von Rapunzel mit dem Königssohn und ihrer Entdeckung durch Frau Gothel eine ganze Serie von Geschichten passen: wie sich Rapunzel, getrieben von einer Mischung aus Neugier und Verlangen dem Prinzen zum ersten Mal hingibt -- wie sich das Paar regelmäßig wiedersieht und die Freuden der Liebe auskostet -- wie Rapunzel mit der Zeit die frivolen Möglichkeiten und erotischen Raffinessen ihrer langen Haare entdeckt -- Rapunzels Sorgen und Zweifel, als der Prinz sich einmal verspätet und nicht zur gewohnten Zeit zum Stelldichein erscheint -- die Beinahe-Entdeckung, als sie eines Morgens verschlafen und Frau Gothel auftaucht, während der Prinz sich in allerletzter Sekunde verstecken kann (im Schrank oder unter dem Bett?) -- was geht Rapunzel durch den Sinn, wenn sie entdeckt, dass sie schwanger ist?

Vielleicht versucht sich jemand an diesen Themen, ich würde es sicher gerne lesen. Mein Stil passt aber nicht dazu. Vielleicht kann man andererseits ein wenig weiter und um die Ecke denken? Ich will es mal versuchen.

Beim Korrekturlesen meiner folgenden Geschichte fällt mir allerdings auf, dass ich mich mit dem Stoff vielleicht doch zu intensiv auseinander gesetzt habe, so dass mir die Leichtigkeit und der Humor, mit dem ich die bisherigen Märchen behandelt habe, in diesem Fall verloren gingen. Entscheidet selbst.


* * *


Die Kaninchen stellten ihre langen Ohren auf. Das Geräusch brechender Äste war das erste Anzeichen, dass sich größere Wesen der grünen Lichtung im Schatten des hohen Turmes näherten. Dann zeigten Schläge von Metall auf Holz und das zischende Sausen einer schnellen Klinge, dass es Menschen waren, die sich einen Pfad durch das widerstrebende Unterholz bahnten. Noch ehe das dichte Blattwerk am Waldrand begann, sich zu bewegen, waren die scheuen Nager in ihrem Bau verschwunden.

Eine hochgewachsene Gestalt in grün-brauner, bequem geschnittener Jagdkleidung schob sich durch die breitblättrigen Büsche, sah sich kurz aufmerksam um und ließ dann das Schwert mit der dünnen, scharfen Klinge, das sie in der Hand gehalten hatte, in einer einzigen geschmeidigen Bewegung in der am Gürtel befestigten Scheide verschwinden. Unter der Kapuze, die ihr Gesicht beschattete, hing ein dicker Zopf heraus, zu dem die glänzenden blonden Haare geflochten waren.

Sie drehte sich zum Waldrand um. Die Stimme, mit der sie einen noch unsichtbaren Verfolger anrief, gehörte eindeutig einer jungen Frau.

„Nastur1, nun mach schon! Wir sind da."

„Warte, Urtica2, bin gleich bei dir."

1 Nasturtium officinale = Brunnenkresse, 2 Urtica dioica = Brennessel

Darauf folgten ein leiser Fluch und das Geräusch eines Körpers, der auf weichen Boden fiel. Nach weiterem Fluchen und Rascheln tauchte eine zweite Gestalt aus dem Gebüsch auf, die der ersten glich, deren Kapuze jedoch vom Kopf gerutscht war, so dass man das Gesicht eines jungen Mannes erkennen konnte, dessen kurz geschnittene Haare die gleiche Farbe wie der Zopf seiner Vorgängerin hatten. Ein Dutzend kecker Sommersprossen verteilte sich über seine Wangen. Mit einem verlegenen Kleine-Jungen-Grinsen wischte sich der Bursche die Hände ab und klopfte Schmutz von Ärmeln und Hosenbeinen.

„Ich bin über eine Wurzel gestolpert", erklärte er entschuldigend.

Ein resigniertes Schnauben erklang unter der Kapuze.

„Sag mir was Neues!"

Die erste Person drehte sich von ihrem jungen Begleiter weg und ein Paar feingliedriger Hände schob ihre Kapuze zurück. Dann hob sie den Blick, um das imposante Bauwerk in der Mitte der Lichtung betrachten zu können.

Es handelte sich tatsächlich um eine junge Frau, deren Züge denen des Mannes, der sich direkt neben sie stellte, so sehr glichen, dass sie eine enge Verwandtschaft nicht ableugnen konnten. Beide waren sie nach objektiven Maßstäben sehr attraktiv. Sie schienen im gleichen Alter zu sein. Und soweit die weite, lockere Kleidung es zuließ, war auch ihre Statur -- bis auf einige naheliegende anatomische Unterschiede - einigermaßen vergleichbar.

„Wow! Hier also haben Vater und Mutter sich kennengelernt."

Ein hoher Turm ragte vor ihnen in den blauen Himmel, mit Mauerwerk, das für die Ewigkeit errichtet zu sein schien. Auf den ersten Blick war nirgends ein Eingang oder eine Öffnung zu erkennen. Nur weit oben, knapp unter dem grauen Schindeldach, war ein Schatten zu erkennen, der ein Fenster hätte sein können.

Während Nastur das Fundament umrundete, trat Urtica näher an die Mauer heran. Sie war ohne Mörtel aus großen Steinquadern zusammengesetzt. Efeu klammerte sich in die Fugen, die Ranken waren hier so dick wie ein Unterarm. Prüfend zog Urtica an ihnen, um die Festigkeit zu testen. Ihr Bruder hatte seine Runde beendet und trat zu ihr.

„Es gibt keine Tür oder sonst einen Zugang. Wie sollen wir reinkommen?"

„Ach, Nastur! Hast du denn gar nie zugehört, wenn Vater uns die Geschichte erzählt hat?"

„Doch, natürlich. Aber ich dachte immer, das mit dem Turm ohne Tür wäre nur eine Übertreibung, damit die Geschichte wie ein Märchen klingt. Spätestens seit ich weiß, wie viel zwanzig Ellen Höhe sind, konnte ich nicht mehr glauben, dass Mutters Haare jemals so lang waren. Hast du etwa alles ernst genommen?"

„Ich war nicht sicher. Deshalb wollte ich es unbedingt mit eigenen Augen sehen. Du nicht?"

„Ja, schon. Ich hätte aber nie gedacht, dass hier wirklich solch ein Turm steht. Wer glaubt denn so was?", kopfschüttelnd trat er einige Schritte zurück und legte den Kopf weit in den Nacken, „Tja, das war's dann wohl. Ohne Leiter kommen wir da nie rauf. Wenigstens können wir sagen, wir sind hier gewesen. Machen wir ein Picknick und dann gehen wir zurück."

Er nahm seinen Rucksack ab und sah hinein.

„Hm?", er steckte eine Hand in den Rucksack und tastete sich bis zum Boden durch, „Hm, Urtica? Hast du den Käse eingepackt? Urtica?!"

Seine Schwester hatte die Riemen ihres eigenen Rucksacks festgezurrt und seinen Sitz zu Recht gerückt. Sie stemmte einen Fuß gegen die Mauer und hielt sich an zwei dicken Efeuranken fest.

„Wenn ich oben bin, werfe ich dir ein Seil herab."

„Äh, was?", er starrte seiner Schwester nach, deren Füße bereits auf Höhe seines Kopfes nach Halt zwischen den Steinblöcken suchten, „Urtica, lass das! Das ist viel zu gefährlich, das Fenster ist mindestens zwölf Meter über dem Boden!"

„Nein, kein Problem. Der Efeu hatte Jahrzehnte Zeit, um sich festzuklammern, und er wächst bis ganz nach oben. Siehst du?"

Sie rüttelte noch einmal mit ganzer Kraft an den dicken Trieben und ein Schauer trockener Blätter rieselte auf ihren Bruder herab, der prustend den Kopf schüttelte.

„Aber wer sagt dir, dass er da oben noch genauso stabil ist? Komm bitte wieder runter."

„Hast du etwa Angst?", schon wieder hatte Urtica zwei weitere Meter Höhe gewonnen und musste lauter reden, damit er sie verstand.

Sein „Nein!" kam ein wenig zu schnell und zu laut.

Nastur zog eine Grimasse. Er wollte seiner Schwester gegenüber nicht zugeben, was ihn wirklich bewegte. Auch wenn sie beide gleich alt waren -- nun, genau genommen, war Urtica ein paar Minuten älter als er -- hatte er sich schon immer, seit er so etwas wie Verantwortung empfinden konnte, für sie verantwortlich gefühlt. Seine Erziehung als Mann und Thronfolger legte ihm das nahe. Aber schon kurz darauf hatte er lernen müssen, dass sie es nicht schätzte, wenn irgendjemand versuchen wollte, ihr Vorschriften zu machen, und sei es nur zu ihrem eigenen Schutz.

Seither versuchte er, einfach nur da zu sein, wenn sie mal wieder eine ihrer irren Ideen hatte. Er gab ihr das Gefühl, dass sie die Kontrolle hatte und ihm überlegen war. Es machte ihm nichts aus, dazu vor ihr notfalls den Trottel zu spielen, so lange kein Dritter dabei war. Doch er litt geradezu körperliche Qualen, wenn sie sich in Situationen brachte, in denen er sie beim besten Willen nicht schützen konnte. Bis heute hatte sie ihn nicht durchschaut und hielt ihn für einen Feigling, möglicherweise auch für einen Schwächling.

„Also, dann ist ja alles in Ordnung", höhnte sie von oben herab, dann nahm ihre Stimme einen beschwichtigenden Tonfall an, „Nastur! Denk doch mal nach. Das ist vermutlich die allerletzte Chance für uns, diesen Ort zu besuchen. Nächsten Monat werden wir einundzwanzig. Dann übernimmst du die offiziellen Pflichten als Kronprinz und ich kann mich der Tradition gemäß nicht mehr wehren, wenn so ein hergelaufener Königssohn um meine Hand anhält. Wir müssen das jetzt durchziehen."

„Na gut, einverstanden. Aber pass bitte wirklich auf."

Nasturs Herz schlug bis zum Hals, während er seiner Schwester zusah, wie sie immer höher am Turm hinauf stieg. Doch seine Sorge war unbegründet. Behände wie ein kleiner Affe hangelte sich Urtica zwischen dem Efeu an der Wand hoch. Als sie das Fenster erreicht hatte, winkte sie ihm noch einmal kurz zu. Nastur blieb die Luft weg, weil sie sich währenddessen nur mit einer Hand festhielt. Dann verschwand sie im Schatten des Turminnern. Kurz darauf klatschte das Ende eines Seils neben ihm zu Boden. Er murmelte:

„Rapunzels Tochter, lass dein Haar herunter, hätte ich wohl erst rufen sollen, damit es stilecht wird."

Dann zuckte er mit den Schultern, band sich eine Schlinge um den Oberkörper, stellte die Füße gegen den Turm, und als er spürte, wie das Seil nach oben gezogen wurde, fing er an, langsam an der Wand hinauf zu gehen. Dabei vermied er tunlichst, nach unten zu sehen. Das schwierigste Stück, nämlich der Einstieg ins Fenster lag direkt vor ihm, als das Seil ins Stocken geriet. Dann streckte sich ihm eine Hand entgegen, die er dankbar ergriff.

Beider Gesichter waren vor Anstrengung gerötet, als sie sich im Turmzimmer gegenüber standen. Dann grinsten sie glücklich und fielen sich erleichtert um den Hals.

„So, jetzt können wir dein Picknick machen. Packe du aus, ich seh' mich rasch um."

Nastur unterdrückte den Impuls, sie erneut zu Vorsicht zu gemahnen. Der Turm hatte einen Durchmesser von vielleicht vier oder fünf Metern. Das Zimmer, in dem sie standen, offenbar der Wohn- und Schlafbereich, nahm davon bereits den größten Teil ein. Eine geschlossene Tür führte in den Rest. Urtica verschwand dahinter.

Ein bedrohliches Dröhnen und Quietschen aus dem Nebenraum jagte Nastur einen gewaltigen Schrecken ein. Wie der Blitz war er auf den Füßen und stürzte zur Quelle des Getöses. Dort betätigte seine fröhliche Schwester den Schwengel einer eingerosteten Pumpe. Die beängstigenden Geräusche kamen aus der trocken gefallenen Leitung, die kurz darauf eine dunkelbraune Brühe ausspuckte. Urtica ließ aber nicht locker, und nachdem sie mehrere Liter Flüssigkeit hochgepumpt hatte, floss klares Wasser aus dem Hahn.

„Wusste ich's doch! Wie hätte Mama hier jahrelang ohne frisches Wasser überleben sollen?", feixte sie und deutete auf eine kupferne Sitzwanne, die an der Wand neben einem Herd stand, „du weißt, wie gerne sie badet. Hätte sie all das Badewasser eimerweise mit ihren Haaren hier herauf ziehen sollen?"

Nach dem Essen standen sie gemeinsam am Fenster und sahen in den Sommeruntergang.

„Danke für deine Beharrlichkeit", Nastur sah seine Schwester von der Seite an, „ehrlich. Ich bin sehr froh, dies mit dir erlebt zu haben."

„Gern geschehen, kleiner Bruder. Morgen gehen wir nach Hause und werden erwachsen. Du bereitest dich darauf vor, König zu werden. Und ich warte auf das Erscheinen meines Märchenprinzen", ihre Stimme troff vor Sarkasmus, „aber diese eine Nacht haben wir noch."

Sie begann, ihre Jagdbluse aufzuknöpfen. Nastur zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Ich gehe baden. Was hast du denn gedacht? Ich bin schließlich die Tochter unserer Mutter."

Er sah seiner Schwester nach, während sie in Richtung des kombinierten Küche-Badezimmers ging. Wie es ihre Art war, kickte sie unterwegs ihre Stiefel von den Füßen und hinterließ eine unordentliche Spur ihrer Kleidungsstücke auf dem Weg zum Bad. Als sie die Tür erreicht hatte, trug sie nur noch ihr Höschen. Ehe sie hindurch ging, drehte sie sich noch einmal halb um und zwinkerte ihrem Bruder zu. Im Halbdunkel, das sich mit der einbrechenden Dämmerung im Turm verbreitete, konnte er nur ihre Silhouette erkennen, die einen beeindruckend athletischen, weiblichen Körper mit straffen Brüsten, flachem Bauch, hübsch gerundetem Hinterteil und schlanken Beinen zeigte. Ihr langer Zopf hing über den ganzen Rücken herab.

„Aber nicht gucken!", säuselte sie mit mädchenhaftem Augenaufschlag.

„Ach verschwinde!", blaffte er zurück.

Es war seit Jahren ein altes Spiel zwischen ihnen. Seit ihrer Geburt waren sie immer zusammen gewesen, waren gemeinsam gebadet worden und schliefen in einem Bettchen. Ehe sich ihre Körper äußerlich deutlich zu unterscheiden begannen, hatten sie sich manchmal heimlich ausgezogen und ihre Kleider getauscht, um ihre Aufpasser oder Lehrer zu verwirren.

Dann kam der Tag, an dem das Kindermädchen ihnen verbot, sich gegenseitig nackt zu sehen. Weder verstanden sie es, noch hielten sie sich daran. In aller Unschuld lebten sie weiter wie bisher und beobachteten, wie ihre Körper begannen, sich unterschiedlich zu entwickeln. Mit der zunehmenden Erkenntnis ihrer verschiedenen Geschlechter wurde ihnen bewusst, dass ein äußeres Merkmal sie schon immer als Bruder und Schwester gekennzeichnet hatte.

Nachdem ihre ersten harmlosen Fragen nach dem Warum und Wozu unbeantwortet blieben, verzichteten sie darauf, weiter nachzubohren. Aber sie begannen zu beobachten. Und da sie aufmerksam und intelligent waren, zudem in einem Schloss mit ausgedehnten Stallungen, zahlreichen Hunden und Katzen, sowie umliegenden Gehöften aufwuchsen, reimten sie sich die notwendigen Antworten zusammen. Mit dem Verständnis kam das Schamgefühl und seither vermieden sie es, sich dem anderen völlig nackt zu zeigen.

Nastur fand eine Handvoll Kerzen in einer Schublade und in deren schwachen Schein sah er sich etwas gründlicher in dem großen Turmgemach um. In der Mitte des Zimmers stand der Tisch mit den zwei Stühlen, an dem sie gegessen hatten. Ein bequem aussehender Polstersessel mit hohem Rücken war so an die Wand geschoben, dass man aus dem Fenster sehen konnte, wenn man darin saß. Eine bestickte Tagesdecke schützte das einfache Bett, das auf der anderen Seite des Raumes stand. Daneben war ein breiter, mit Blumenmuster bemalter Kleiderschrank platziert. Vor dem Bett war ein hochfloriger Teppich auf dem ansonsten offen liegenden Boden aus dicken Holzdielen ausgebreitet.

Aus dem Nebenraum drangen die Geräusche Urticas, die Feuer gemacht hatte und Wasser für die Wanne erwärmte. Ohne dass er es beabsichtigt hätte, schob sich dadurch das Bild seiner fast nackten Schwester vor sein inneres Auge, wie sie sich für das Bad vorbereitete. Zwar hatte er ihren Schambereich nicht mehr gesehen, seit sie an der Schwelle zum Erwachsensein gestanden waren. Doch hatte er als junger Mann und Prinz durchaus schon seine Erfahrungen mit verschiedenen, durchweg willigen, jungen Frauen gemacht und kannte die naturgemäßen Details des anderen Geschlechts. Unwillkürlich versuchte er sich vorzustellen, wie seine Schwester völlig unbekleidet aussehen würde.

Erschrocken verscheuchte er die Phantasiebilder, als er bemerkte, wie sie begannen, ihn zu erregen. Um sich abzulenken, machte er sich geschäftig daran, den Raum für die Nacht vorzubereiten. Die Einrichtung zeigte die Spuren jahrelanger Vernachlässigung und er schüttelte den Staub von Tagesdecke und Teppich aus dem Fenster. Er sammelte die verstreuten Sachen und Kleidungsstücke seiner Schwester ein und legte sie über einen Stuhl. Die übrig gebliebenen Vorräte verstaute er wieder in den Rucksäcken, die er unter den Tisch schob. Dann gab es beim besten Willen nicht mehr viel zu tun. Das Geschirr abzuräumen und in die Küche zu bringen, wollte er vermeiden, so lange seine Schwester dort badete.

Stattdessen trat er wieder ans Fenster und sah hinaus in die Nacht. Der Mond war zu einer schmalen Sichel geschmolzen und verbarg sich immer wieder hinter vorbeiziehenden Wolkenschleiern. Außer der direkt unter ihm liegenden Lichtung und dem dunklen Dach des dahinter liegenden Waldes konnte Nastur kaum etwas erkennen. Für einen Augenblick vermeinte er, einen großen schwarzen Vogel zu sehen, der über den Wipfeln heransegelte und sich auf einem der Bäume niederließ. Dann war der fliegende Schatten verschwunden.

Er versuchte sich vorzustellen, wie sich seine Mutter gefühlt haben musste, wenn sie abends hier alleine gestanden war. Doch wollte es ihm nicht gelingen, sich in die Gefühle eines jungen Mädchens zu versetzen, das seit seinem zwölften Lebensjahr von der Frau, die es für seine Mutter hielt, eingesperrt war. War es Einsamkeit, Langeweile, gar Verzweiflung?

Was konnte einen Menschen dazu bewegen, einem Kind Derartiges anzutun? Wut stieg in ihm hoch. Die Hexe hätte dafür bezahlen sollen. Doch soweit er sich an die Erzählungen erinnerte, war sie ohne Strafe davon gekommen. Nachdem sie Rapunzel verstoßen und seinen Vater dazu gebracht hatte, sich vom Turm zu stürzen, wurde sie im Märchen mit keiner Silbe mehr erwähnt. Was wohl aus der Zauberin geworden war?

Nun, das war lange her. Das Märchen war letztendlich gut ausgegangen und nachträglich konnte er an der Geschichte ohnehin nichts mehr ändern. Er lebte im hier und jetzt und musste die Probleme angehen, die sich ihm in der Gegenwart stellten.

Urticas Begründung, weshalb sie unbedingt vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag hatte hierher kommen wollen, ging ihm durch den Kopf. Sie hatte Recht, vermutlich würde sie in Kürze heiraten und fortziehen, eigene Kinder bekommen. Mit dieser Idee konnte er sich noch nicht ganz abfinden. Ihr ganzes bisheriges Leben lang waren sie zusammen gewesen und hatten alles geteilt. Er fühlte sich nicht bereit dafür, dass sie ihn verlassen würde. Wer sollte dann auf sie aufpassen?

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