Category: Romane und Kurzromane Geschichten

Argonauta Kapitel 01-02

by Panthera_tigris©



Vorwort



Liebe Leserinnen und Leser,

es ist mir eine große Freude, hiermit die Geschichte um Julia Adler weitererzählen zu dürfen. Argonauta ist zwar die Fortsetzung zu meiner Geschichte Eine Party und ihre Folgen, insbesondere führt sie die Geschichte nach dem Epilog des sechsten Teils fort, doch sie ist völlig selbstständig und unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der ersten Erzählung. Sie kann auch gelesen werden, wenn man die Vorgeschichte nicht kennt, aber es kann nicht schaden, zuerst Eine Party und ihre Folgen und anschließend Argonauta zu lesen. Für alle, die die Vorgängergeschichte noch nicht kennen sollten und diese zuerst lesen möchten, sind hier sämtliche Teile verlinkt:

Eine Party und ihre Folgen 01

Eine Party und ihre Folgen 02

Eine Party und ihre Folgen 03

Eine Party und ihre Folgen 04

Eine Party und ihre Folgen 05

Eine Party und ihre Folgen 06

Ein wesentlicher Unterschied der Fortsetzung besteht darin, dass es sich in erster Linie um eine Abenteuergeschichte handelt. Am ehesten könnte man die Story als einen Wissenschaftsthriller bezeichnen. Gleichzeitig ist Argonauta aber auch eine Liebesgeschichte. Nicht nur im klassischen Sinn, sondern vor allem soll die Geschichte verstanden werden als eine Liebeserklärung an unsere wunderbare Welt und an eines der vermeintlich letzten Paradiese unserer Erde, jedoch soll die Geschichte auch eine Warnung sein, die darauf hinweisen soll, wie verletzlich und fragil unsere Ökosysteme sind. Argonauta enthält natürlich weiterhin auch erotische Passagen (Sexualität ist nun einmal ein elemantarer Bestandteil des Menschlichen und sollte darum nicht ausgespart werden), doch habe ich diesen Anteil zugunsten der Handlung im Vergleich zur Vorgeschichte deutlich reduziert.

Eine weitere Neuerung ist, dass ich mich für diese Geschichte dazu entschieden habe, alle Teile in einer Kategorie, „Romane", zu veröffentlichen, da ich der Meinung bin, dass damit euch Leserinnen und Lesern das Auffinden nachfolgender oder zurückliegender Teile erleichtert wird.

Wie immer, sind konstruktive Kritik und Kommentare ausdrücklich erwünscht. Eure Meinung interessiert mich wirklich sehr.

Doch lang genug geredet, nun soll es endlich losgehen. Zum Schluss möchte ich darum euch allen viel Vergnügen wünschen.

Frohes Lesen wünscht

Panthera tigris



Prolog



Stanley Douglas hatte es geschafft. Seit nunmehr zwanzig Jahren arbeitete er in einer Filiale der Australian National Bank. Mit siebzehn Jahren hatte er seine Lehre zum Bankkaufmann in dem traditionsreichen Unternehmen begonnen. Drei Jahre später hatte er mit Auszeichnung sämtliche Prüfungen bestanden und war nach seiner abgeschlossenen Ausbildung umgehend als Festangestellter übernommen worden. Man verlangte viel von ihm und er war stets bereit gewesen, alles zu geben, um den hohen Erwartungen, die man an ihn stellte, gerecht zu werden. Während seine Freunde nach Feierabend in einer Bar abhingen und ein Bier nach dem anderen tranken, blieb er an seinem Schreibtisch und schob Überstunden. Wie viele davon er im Laufe seines Berufslebens angehäuft hatte, wusste er nicht genau. Mindestens die Hälfte davon hatte er unbezahlt gearbeitet. Selbst am Wochenende hatte er Arbeit mit nach Hause genommen, sehr zum Leidwesen seiner Frau Maddie. Doch seine Vorgesetzten waren von seiner harten Arbeit mehr als angetan und wussten seine Mühen zu würdigen. Vor gut drei Jahren war er nun zum Filialleiter befördert worden, mit eigenem Büro und eigener Sekretärin. Der nächste Schritt würde die Abberufung in die Hauptzentrale sein, aber bis dahin war der Weg noch weit.

„Guten Morgen, Mrs. Schmidt", begrüßte er gut gelaunt seine Sekretärin als er an diesem Morgen sein Büro betrat. Zufrieden stellte er fest, dass der Kaffee bereits durch die Filtermaschine gurgelte und sich ein wohliges Aroma in der Luft ausbreitete. Auf Mrs. Schmidt war eben absolut Verlass.

„Morgen Chef", antwortete eine ältliche Dame mit schlohweißem Haar, das sie zu einem Dutt gebunden hatte und ihr das Aussehen einer strengen Hausdame verlieh. Die halbmondförmigen Gläser ihrer Nickelbrille, die auf einer hakenförmigen Adlernase ruhte, unterstrichen diesen Eindruck noch.

„Was steht heute an?", fragte Douglas, während er nach der Tageszeitung griff, die seine Sekretärin bereits für ihn bereitgelegt hatte. Das war sein allmorgendliches Ritual, das er sich gönnte, seit man ihn befördert hatte. Wenn er schon den ganzen Tag für die Bank schuftete, würde man ihm doch wenigstens diese eine halbe Stunde am Morgen gönnen, die er mit einer Tasse heißen Milchkaffees und dem Studium der Tagespresse zubrachte.

Mrs. Schmidt machte sich nicht die Mühe, in den Terminkalender zu schauen. Douglas verblüffte es immer wieder, aber die Gute schien tatsächlich sämtliche seiner Termine auswendig zu kennen. Seit er sie kannte, hatte sie sich noch nie geirrt. In drei Wochen würde die erfahrene Dame in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Douglas vermisste sie jetzt schon. Das junge Ding, das seit gut zwei Monaten von Mrs. Schmidt eingearbeitet wurde, bemühte sich zwar sichtlich, doch an die Qualitäten ihrer Mentorin reichte sie um Längen nicht heran.

„Um zehn haben Sie eine Besprechung mit dem Bürgermeister. Es geht um das Darlehen für den Ausbau des Containerhafens."

„Ach ja, richtig. Was vermuten Sie, wird es wieder teurer als seine Leute im Bauamt ursprünglich kalkuliert hatten?", fragte Douglas, der an der Meinung seiner helfenden Hand stets sehr interessiert war.

Mrs. Schmidt zuckte die Achseln. Dann grinste sie und sagte mit bissigem Unterton: „Sie wissen doch, die Stahlpreise sind explodiert."

„Es wird diesmal keine Ausweitung des Kreditrahmens geben", sagte Douglas, der sich die Kanne griff und Kaffee in seine Tasse eingoss.

„Wie ich Sie kenne, werden Sie am Ende doch wieder klein bei geben, Chef. Sie haben halt ein gutes Herz."

„Ein viel zu gutes Herz, fürchte ich. Wollen Sie auch Kaffee?", fragte er.

„Nein, danke, Chef. Ich hab' schon drei Tassen intus. Noch mehr und meine Hände fangen an zu zittern."

„Vorher stehen keine Termine an, Ruth?"

„Nein. Aber die Post habe ich Ihnen schon auf Ihren Schreibtisch gelegt und Sie müssen sich noch die Bewerbungsunterlagen für die offene Stelle in der Wertpapierabteilung ansehen, Clara Reeves liegt mir seit Tagen jammernd in den Ohren, dass ihre Leute mit der Arbeit einfach nicht nachkommen."

„Ist in Ordnung, Ruth. Wenn es denn unbedingt sein muss."

„Ich habe mir schon mal die Freiheit genommen, die geeignetsten Kandidaten für die Stelle für Sie mit einem Post-It zu markieren, Chef", sagte Ruth Schmidt.

Wieder einmal hatte Ruth an alles gedacht.

„Sie sind ein Schatz, Ruth."

„Ich werde Sie bei Gelegenheit daran erinnern."

Douglas ging mit seiner Tasse in sein Büro und verschloss die Tür hinter sich. Er ließ sich in seinen Schreibtischstuhl, eine besonders rückenschonende Spezialanfertigung, sinken und betrachtete den Stapel an Briefen, der sich auf seinem Schreibtisch aufgetischt hatte. Ganz oben lag ein Brief von einer Anwaltskanzlei, der ziemlich offiziell aussah. Er griff sich den Brief und betrachtete ihn aufmerksam. Er war von einer Kanzlei namens Zinc, Stevens & Partner verschickt worden, von der er noch nie zuvor etwas gehört hatte. Er griff sich den Brieföffner, den ihm seine Frau Maddie anlässlich seiner Beförderung vor vier Jahren geschenkt hatte, und öffnete das Dokument vorsichtig. Dann schob er seine Finger in den geöffneten Umschlag und fischte das darin befindliche Papier heraus. Das Papier war überraschend fest, beinahe wie Karton und seine Oberfläche fühlte sich leicht rau an. In goldenen Lettern war der Name der Kanzlei in den Briefkopf eingeprägt. Douglas las den Brief aufmerksam durch:

Sehr geehrter Mr. Douglas,

am 12.05. dieses Jahres verstarb plötzlich und unerwartet der Großvater meines Mandanten Henning Jürgens Jr., wohnhaft in Hamburg, Deutschland. Sein Großvater, Henning Jürgens Sr., wanderte vor vielen Jahren nach Australien aus und verbrachte in Brisbane seine letzten Lebensjahre. Wie aus dem Testament des Großvaters meines Mandanten hervorgeht, besaß Mr. Jürgens Sr. in Ihrem Geldinstitut ein persönliches Bankschließfach mit der Depotnummer 08-1968/4. Der Inhalt jenes Schließfaches, so ist es im handschriftlich verfassten letzten Willen von Mr. Jürgens Sr. verfügt worden, soll an meinen Mandanten vererbt werden. Da mein Mandant aus persönlichen Gründen leider nicht selbst anreisen kann, hat er unsere Kanzlei damit beauftragt, wor Ort seine Interessen zu vertreten.

Ich möchte Sie darum höflich bitten, mit mir unter der unten genannten Telefonnummer oder per E-Mail einen Termin zur Abwicklung der Angelegenheit zu vereinbaren.

Mit freundlichen Grüßen

i. A. Thomas Renner,

Juniorpartner

Stanley Douglas ließ den Brief, nachdem er ihn ein zweites und ein drittes Mal gelesen hatte, auf den Schreibtisch segeln. Er hatte den Namen des Mannes, der in dem Brief genannt wurde und angeblich in seiner Bank ein Schließfach besaß, noch nie etwas gehört. Aber selbst Stanley Douglas, der täglich mit zig verschiedenen Leuten zu tun hatte, konnte sich nicht an alle Kunden seines Instituts erinnern.

„Ruth?", rief er laut.

Nur wenige Sekunden später öffnete sich die Tür seines Büros und Mrs. Schmidt steckte ihren Kopf herein, wobei ihr die Brille beinahe von ihrer großen Raubvogelnase rutschte. „Ja Chef, was gibt's?"

„Kennen Sie einen Henning Jürgens?", fragte Douglas.

„Nein, Chef. Warum fragen Sie?", entgegnete Ruth.

„Weil ich hier ein Schreiben einer Anwaltskanzlei habe, die einen gewissen Henning Jürgens Jr. vertritt. Sein Großvater muss wohl ein deutscher Auswanderer gewesen sein und soll angeblich bei uns ein Schließfach besessen haben, das sein Enkel nun geerbt haben soll", fasste Douglas den Inhalt des Schreibens in aller Kürze zusammen.

„Tut mir leid. Ein Kunde mit diesem Namen ist mir nicht bekannt."

„Das ist es ja, mir kommt er auch nicht bekannt vor", sagte Douglas.

„Vielleicht ist es ein älteres Depot, das schon bestand, bevor Sie und ich hier angefangen haben?"

„Das kann gut möglich sein."

„Um welches Konto handelt es sich denn, Chef?"

„Einen Moment ... ah ja, hier steht's ja ... Depotnummer 08-1968/4."

„Das bedeutet, dass das Depot seit 1968 besteht, Mr. Douglas. Das war weit vor meiner Zeit. Ich habe erst 1980 angefangen, für Ihren Vorgänger zu arbeiten", antwortete Ruth. Was Sie aber eigentlich wissen müssten, wenn Sie nicht letzte Woche mein Dienstjubiläum vergessen hätten, dachte sie, sprach es jedoch anstandshalber nicht laut aus.

„1968 also. Das bedeutet, dass die Daten noch nicht in unser EDV-Netzwerk eingespeist wurden. Ruth, tun Sie mir bitte einen Gefallen und schauen unten im Archiv nach ..."

„... was sich in unseren Unterlagen über dieses Schließfach finden lässt? Jawohl, geht klar."

„Danke sehr", sagte Douglas. Ruth machte sich umgehend an die Arbeit und schloss die Tür hinter sich wieder. Von draußen waren dumpfe Schritte zu vernehmen, die sich rasch entfernten und leiser wurden. Währenddessen wählte Douglas die Telefonnummer, die auf dem Briefkopf angegeben war. Der Wählton ertönte vier Mal, dann wurde das Gespräch entgegengenommen.

„Renner, Kanzlei Zinc, Stevens & Partner. Was kann ich für Sie tun?", meldete sich eine junge, beinahe knabenhafte Männerstimme zu Wort.

„Hier spricht Stanley Douglas, Filialleiter der Australian National Bank in Brisbane, guten Morgen, Mr. Renner. Mir liegt hier ein Schreiben Ihrer Kanzlei vor, welches ..."

„Ah, guten Morgen, Mr. Douglas. Wie schön, dass Sie anrufen. Sie werden sicher verstehen, dass meinem Mandanten daran gelegen ist, so schnell wie möglich sein Erbe anzutreten."

„Natürlich. Bitte richten Sie Ihrem Mandanten im Namen meiner Bank unser herzliches Beileid aus."

„Das werde ich selbstverständlich tun. Aber wie sieht es denn mit einem Termin aus? Wäre es möglich, dass wir uns heute noch treffen?"

„Mr. Renner, leider fürchte ich, dass Ihr Anliegen sich nicht so schnell klären wird wie Ihr Mandant sich das erhofft. Wie es scheint, ist das Depot von Mr. Jürgens ein altes Depot, über das uns in unserem Computer keinerlei Informationen vorliegen. Ich habe bereits veranlasst, dass sämtliche Dokumente in unserem Aktenarchiv zusammengetragen werden, aber das wird dauern", sagte Douglas ruhig.

„Das ist ... zutiefst bedauerlich. Unser Mandant wünscht sich wirklich, dass die Sache sehr schnell geregelt wird. Seinen Angaben nach enthält das Schließfach eine ganze Reihe sehr persönlicher Gegenstände, die zwar nicht von besonders hohem materiellen, dafür aber mit einem nicht mit Zahlen ermessbaren emotionalen Wert für meinen Mandanten verbunden sind."

Douglas runzelte die Stirn. Er bemühte sich, Verständnis für die Situation des Mandanten der Kanzlei aufzubringen, doch ihm war klar, dass er als Leiter der Bank eine gewisse Verantwortung trug. Seine Sorgfaltspflicht gebot, dass die Sache zunächst ausgiebig geprüft werden musste. "Tut mir leid, aber ich fürchte, das wird nicht so einfach sein. Sie verstehen sicher, dass wir erst feststellen müssen, ob Ihr Mandant wirklich ein Zugriffsrecht auf das Schließfach besitzt."

„Ich versichere Ihnen, das ist so. Mir liegt eine beglaubigte Kopie des Testaments vor, aus der eindeutig hervorgeht, dass ...", sagte Renner schnell.

„Dann haben Sie sicher nichts dagegen, dass wir das Dokument überprüfen."

„Natürlich nicht. Es liegt wie gesagt auf meinem Schreibtisch. Ich habe es gerade vor mir liegen. Wenn Sie wollen, können Sie es sich gerne persönlich ansehen. Wie wäre es mit heute Abend, sagen wir, bei einem Essen? Selbstverständlich auf Kosten der Kanzlei", antwortete Renner ungeduldig.

Das hatte Douglas gerade noch gefehlt. Er und seine Frau waren für heute Abend bereits zum Tanzen verabredet. Sie hatte ihm gewissermaßen die Pistole auf die Brust gedrückt und ihm mit der Scheidung gedroht, sollte er diesen von langer Hand geplanten Abend einmal mehr sausen lassen. Für ein Geschäftsessen würde Maddie wenig Verständnis aufbringen.

Es klopfte an der Tür. „Einen Moment bitte", sagte Douglas in den Hörer. Dann rief er laut in Richtung Tür: „Herein!"

Ruth war aus dem Archiv zurück und hielt in der Hand ein Bündel von Seiten, die sie hastig aus einer Akte kopiert hatte. „Das ist alles, was ich auf die Stelle finden konnte. Bestimmt gibt es noch mehr, aber dafür müsste ich noch tiefer graben und das dauert", sagte Ruth und legte die Kopien auf Douglas' Schreibtisch ab.

„Danke", sagte Stanley. Ruth nickte pflichtbewusst mit dem Kopf und wandte sich dann zum Gehen um, um sich wieder an ihren Arbeitsplatz zu begeben. Douglas überflog eilig die Dokumente, die Ruth ihm gebracht hatte.

Aus der Akte ging hervor, dass Henning Jürgens tatsächlich, wie ihm nunmehr bereits bekannt war, im Jahre 1968 ein Schließfach der Australian National Bank gemietet hatte. Aus den Unterlagen ging darüber hinaus hervor, dass er die Miete für exakt einhundert Jahre im Voraus bezahlt hatte. Bar.

„Wir haben tatsächlich ein Schließfach, das von einem Mr. Jürgens gemietet wurde", sagte Douglas in den Hörer." Dem Mietvertrag war unter anderem die Kopie eines Personalausweises von Henning Jürgens Sr. beigefügt, wonach dieser 1934 geboren worden war. In seiner Jugend schien der Mann ein großgewachsener, athletischer und attraktiver Mann gewesen zu sein. Das Foto auf seinem Ausweis strotzte geradezu vor Vitalität. Unweigerlich fragte Douglas sich, wie der Mann wohl in seinen letzten Lebensjahren ausgesehen haben mochte. In Thomas Renners Brief hatte gestanden, dass Jürgens plötzlich und unerwartet gestorben war, was nahelegte, dass Jürgens offenbar nicht an einer Krankheit gelitten hatte, die ihn schwer gezeichnet hätte. „Es wäre hilfreich, wenn wir eine Kopie seiner Sterbeurkunde bekämen", fügte Douglas hinzu, „damit wir diese mit den Angaben der Personalausweiskopie in unseren Unterlagen vergleichen können."

„Aber natürlich, die habe ich ebenfalls hier vorliegen", sagte der junge Anwalt.

Stanley blätterte in den Seiten, die Ruth ihm gebracht hatte. Eine Seite führte detailliert die technischen Spezifikationen auf, mit denen das Schließfach versehen war. Da es sich um ein älteres Depot handelte, besaß es im Gegensatz zu den Schließfächern der neuesten Generation, die in der höchsten Preisklasse sogar mit Retinascanner, Fingerabdruckerkennung und Stimmencodierung abgesichert werden konnten, lediglich einen einfachen Schließmechanismus. Der zugehörige Schlüssel war in einfacher Ausfertigung an Mr. Jürgens persönlich ausgehändigt worden von einem Mitarbeiter namens Ginsbourg. Douglas konnte sich dunkel an ihn erinnern, denn der Mann hatte noch in der Bank gearbeitet, als Douglas seine Ausbildung begonnen hatte.

Aus den Unterlagen ging ferner hervor, dass Jürgens zuletzt 1983 im Januar auf das Depot zugegriffen hatte. In der Zeit danach war das Schließfach weder von ihm noch von einer von ihm bevollmächtigten Person aufgesucht oder gar geöffnet worden.

„Nun", sagte Douglas diplomatisch, „wenn mit den Dokumenten alles in Ordnung ist, dürfte es kein Problem damit geben, Ihrem Mandanten Zugang zum Schließfach seines Großvaters zu gewähren. Wir würden einen Vertrag aufsetzen, der das Depot auf den Namen Ihres Mandanten umschreibt. Wie aus meinen Unterlagen hervorgeht, ist die Miete für das Schließfach bis ins Jahr 2068 bezahlt worden. Wenn das erledigt ist, dann darf Ihr Mandant das Schließfach auch öffnen oder, wenn es ihm nicht möglich ist, persönlich zu erscheinen, auch durch einen Bevollmächtigten seiner Wahl. Er muss aber eine schriftliche Vollmacht ausstellen."

„Oh, eine solche Vollmacht liegt mir bereits vor, Mr. Douglas. Wie ich bereits sagte, meinem Mandanten ist sehr daran gelegen, möglichst bald rechtmäßiger Eigentümer des Depots zu sein", sagte Renner. Dann fügte er ungeduldig hinzu: „Wir haben alle geforderten Dokumente hier, Sir. Wenn Sie bereit wären, heute Abend ..."

„Tut mir leid", sagte Douglas, „ich bin bereits mit meiner Frau verabredet. Heute wird das leider nichts mehr, fürchte ich."

„Und wenn wir uns am Nachmittag treffen würden? Auf einen kleinen Happen? Gleich hier um die Ecke gibt es einen hervorragenden Schnellimbiss", beharrte Renner auf seinem Wunsch, die Sache möglichst rasch zu beenden. Irgendwie konnte Douglas den Kerl sogar verstehen. Renner musste jung und noch voller Idealismus sein. Bestimmt träumte er von einer glanzvollen Karriere als Strafverteidiger, der keine große Lust auf langwierige Erbrechtsangelegenheiten hatte.

„Also gut", sagte Douglas, „sagen wir, um fünf?"

„Prima, das klingt gut."

„In Ordnung. Eine Sache wäre da noch. Zum Öffnen des Depots wird der zugehörige Schlüssel benötigt, den müssten sie natürlich mitbringen."

Renner schwieg eine Weile. Douglas befürchtete beinahe, dass der Anwalt einfach aufgelegt hatte, doch dann sagte Renner kleinlaut: „Das dürfte sich leider schwierig gestalten, Mr. Douglas."

„Wie meinen Sie das?"

„Im Haus des Verstorbenen wurde kein Schlüssel gefunden, der zu einem Bankschließfach gehört und aus dem Testament geht ebenfalls nicht hervor, wo sich der Schlüssel befindet. Ich fürchte, er ist verschollen."

Das verkomplizierte die Sache ungemein. „Dann fürchte ich, kann ich leider nichts für Ihren Mandanten tun", antwortete Douglas.

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